Startseite INHALT │ Texte & Themen  Sozialphänomenologie & Anthropologie Die Furcht des Pharao 

Ein Essay zur Migration, Xenophobie und Idenitität

Die Furcht des Pharao 500

I N H A L T :

Pharaonische Weltordnung – Biblische Urbilder und Reminiszenzen – Christliche Moral und ihre Fallen – Völkerrecht in der Ethik des Islam – Anthropologische und psychologische Aspekte – Archäologie der Parallelgesellschaft – Integration auf dem Scheideweg – Ideologie als Exportartikel – Kulturelle Identität und MachtKreislauf der Geschichte

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Angesichts der immer schlimmer expandierenden humanitären Notstände, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts als Folge der Überbevölkerung, wechselwirkender Konfliktfelder, destruktiver Gewaltprävention und stagnierende Friedenslogik bereits weitgehend unvorhersehbare Dimensionen erreicht haben, erscheinen die Klage des Psalmisten, die Allegorie im Evangelium und die Rhetorik des Korans als schlagkräftigste Beispiele althergebrachter Reflexionen einer dauerhaft zersetzenden Geisteshaltung gegenüber Notleidende und Beistandsbedürftige. Im Kontext notwendiger Solidarität findet sich in den Sprüchen des Hadith eine tiefenpsychologische Wegweisung, die besagt, dass die hidschra (Auswanderung) so lange andauern wird, bis die Reue andauert. Und die Reue so lange andauern wird, bis die Sonne im Westen aufgeht. Also bis Weltende!

In Betracht der unaufhaltbaren Völkerwanderung, die aktuell zwischen Rechts- und Linksdemagogie hinter den Stachelzäunen hin- und hergeschoben wird, ist es äußerst traurig mitzuerleben, wie das spontane menschliche Samaritertum von politischer Rhetorik überschattet wird. Es ist zivilisatorisch beschämend, dass die eigentlichen Gründe für humanitäre Krise explizit verdrängt werden. Die Flüchtlinge als Kriegsexilanten und Wirtschaftsmigranten zu selektieren ist eine Kontradiktion, ein Nonsens par excellence: Wir wollen doch möglichst billige Wirtschaftsprodukte aus dritter Welt, aber gar keine Wirtschaftsflüchtlinge! Statt dass man die Schlepper kriminalisiert, sollte man die verantwortlichen für das globale Wirtschaftschaos vor internationales Gericht stellen. Dann werden die Menschen nicht mehr zwischen den Luxuslinern im Mittelmehr ertrinken oder in Kühltransportern ersticken. In der Tat retten die Schlepper mehr Menschen das Leben als die große Politik sie umbringt. Der levantinische Bürgerkrieg, der wegen komplizierter metaphysischer Konflikte aufgeflammt ist, kann nicht bloß mit blindem Demokratieexport und Präventivkriegen bekämpft werden, weil diese ihn ja schließlich auch verursacht haben. Beim gleichzeitigen Bombardement ihre Länder, können wir den Flüchtlingen kaum die Vorteile unseres exekutiven und legislativen Systems predigen.

Eine weitere Skurrilität ist der Kampf gegen die sog. Parallelgesellschaften, die bereits existent sind: Sie sind kaum zu unterbinden, weil sie natürlich sind. Diverse kollektive Archetypen des menschlichen Denkens sind einfach prägend für die Entstehung isolierter Gesellschaften, mindestens im zivilrechtlichen oder familienrechtlichen Aspekt. Die Ausgrenzungen nach sozialen, nationalen, religiösen und rassischen Kriterien sind leider noch immer allgegenwertig und de facto eine zwischenmenschliche Verhaltensregel. Diametral entgegengesetzte Kulturen (wie z. B. Hinduismus und Islam in Indien), isolieren sich in der Regel gegenseitig wegen Reflexivität der Stereotypen, die historisch entstanden sind. Viele Sozialanthropologen vertreten die Meinung, dass die menschliche Fähigkeit zur Ausbildung von Stereotypen in der Evolution entstanden sei, weil sie einen Überlebensvorteil bot. Wer ein richtiges Stereotyp über das Verhalten der Angehörigen einer aggressiveren Gruppe hatte, hatte einen sehr realen Überlebensvorteil gegenüber vorurteilslosen Zeitgenossen. Denkt man etwa an urbane Bezirke orientalischer Großstädte (etwa an Jerusalem, Damaskus oder Kairo, oder an hinduistische Städte, die noch immer nach dem Kasten-Prinzip funktionieren, letztendlich auch an die „Elitebezirke“ europäischer Metropolen), die traditionsmäßig ausschließlich ethnisch-religiös oder sozial gegliedert sind und im Orient jahrhundertelang mit völlig anderen Rechtsmitteln und anderen Dimensionen des Zusammenlebens geregelt worden sind. Wenn sich die westliche politische Elite durch ihre plakativen Neologismen, wie Aufklärung, Demokratie und Chancengleichheit gegenüber parallel existierende Gesellschaften ideologisch überlegen fühlt, diese aber in der Praxis nicht realisieren kann, dann leidet sie längst an einer kollektiven narzisstischen Persönlichkeitsstörung – an einem Pharao-Komplex. Die existenziellen Urängste einer Hochkultur vor Unterwanderung durch Fremde und durch ihre geometrisch steigende Natalität sind ein Archetyp zivilisatorisch bedingter Xenophobie seit dem alten Ägypten bis heute.

Es ist ein Faktum, das das intransparente Finanzsystem der Interessensverbände die moderne Sklaverei des 21. Jahrhundert geschafft hat, die jetzt revoltiert und ausbricht – Afrika und Indien stehen mit Milliarden noch bevor. Viele Tabu-Themen Europas sind gut gehütete Halbwahrheiten. Das moderne Pharisäertum, seit je herzlos und charaktergestört, will ihre Ressourcen und Märkte mit niemandem teilen „bis es wehtut“. Jedenfalls nicht nach dem friedlichen Muster einer Seligen Mutter Theresa oder eines Mahatma Gandhi. Während Friedrich Nietzsche in seinem Spätwerk Der Antikrist schriebt, der Islam habe tausend Gründe das „Christentum“ zu hassen, sah der britische Kulturhistoriker Arnold Toynbee in Civilization on Trial bereits 1948 weitblickend den Vormarsch des aktuellen Weltproletariats voraus, das durch die westliche Globalisierung erzeugt worden ist und durch das Erwachen des Islam unvorstellbare Dimensionen erreichen kann. Eine sehr weitblickende und geistreiche Erkenntnis.

Während die Wirtschaftslobby sich heute den Kopf zerbricht, wie der Aufstand der Entrechteten zu unterbinden sei (Stacheldrähte, Tränengass, dubiöse Verträge mit Oligarchen, präventive Plakate vor Ort, Illusion von der „Festung Europa“ gegen die globale Armut, die völlig der realen demographischen Situation und humanethischen Prinzipien wiedersprechen), schrieb der muslimische Universalgelehrte und Kulturethiker al-Biruni nach islamischer Eroberung Indiens im 10. Jahrhundert ein Traktat über die Strafe und Sühne des Christentums und verglich diese mit hinduistischer ahimsa (Gewaltlosigkeit). Rein empirisch konstatierte er, dass das Prinzip wie „demjenigen, der dich auf eine Wange geschlagen hat, auch die andere hinzuhalten“ ein durchaus nobles Verhalten sei, doch sind die Kinder dieser Welt nicht alle Philosophen um es zu verstehen. Die meisten sind unwissend und verirren sich.

Die hohen Ideale der christlichen Ethik sind seit dem Konstantin den Großen bzw. mindestens seit dem Investiturstreit zu einer rein spekulativen Theorie moraltheologischer Elite geworden und die christliche Nächstenliebe ist auch heute leider nicht jedermanns Sache.

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 „Schaffe uns Beistand in der Not, denn Menschenhilfe ist nichts nütze“

Psalm 60, 13

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„Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Matthäus 25, 36-40

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„Wenn sie [die Flüchtlinge] vertrieben werden, sie würden nie mit ihnen ausziehen; und wenn sie angegriffen werden [von den Feinden], sie würden ihnen niemals helfen. Und helfen sie ihnen schon [scheinheilig], so werden sie sicherlich den Rücken wenden; und dann sollen sie (selbst) keine Hilfe finden [ihnen wird auch der Rücken gewendet].“

Koran 59, 12

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L E S E P R O B E

Eine Odyssee zu den Laistrygonen

In Betracht der aktuell weitgehend verschärften Asylpolitik der EU, sind die Auswirkungen auf die Justiz und sonstige Bürokratie der Nationalstaaten nicht in allen ihren Details wirklich transparent. Ich vermute eine chaotische, wenn nicht eine aussichtlos frustrierende Situation. Die Fakten sprechen für sich. Bei einem geometrisch so enorm steigenden Ansturm der „Entrechteten unter den Völkern“ auf die „Bastion Europa“ könnten die Grundsätze unserer „westlichen Werte“ und somit die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Die Schengener Rechtsackte und das Dubliner Übereinkommen haben de facto nur noch eine formelle Bedeutung. Nicht nur in den sogenannten V4 Staaten, wo jetzt nach gescheitertem Referendum in Ungarn verfassungsrechtliche Fragen zur Ergänzung des Grundgesetzes parlamentarisch laut werden. Alles in einem nur noch Paragraphenkolosse auf tönernen Beinen, deren Richtlinien angesichts des steigenden Konfliktes im Nahen- und Mittleren Osten (auch Afrika) gar keine langfristige Lösungen bieten. Jetzt einfach hunderttausend flüchtige Afghanen durch ein dubioses Abkommen mit dem Präsidenten Ghani (in seinem Land wegen Korruption von der Mehrheit der Bevölkerung bereits äußerst verhasst) einfach in Schutt und Asche gelegtes Heimatland zurückzuschieben, ist die größte Illusion Deutschlands nach 1945. Außerdem ist die kurzsichtige Idee, Millionen von Migranten einfach auf eine gut bewachte Insel im Mittelmeer (möglichst nahe an nordafrikanischer Küste?) zu verfrachten mehr als absurd. Eine makabre Odyssee zu den Laistrygonen! Es ist auch kein „gut funktionierendes australisches Modell“, sondern vielmehr eine althergebrachte Skurrilität Heinrich Himmlers, die Juden Europas einfach nach Madagaskar abzuschieben. Diese „humanere Endlösung“ wurde damals nie durchgeführt, weil Rommel 1942 in Nordafrika strategisch scheiterte. Der Suezkanal blieb weiter in britischen Händen und ein Transport rund um Afrika um das Kap der Guten Hoffnung wäre für die Wehrmacht „viel zu gefährlich“ gewesen. Die „gute Hoffnung“ von mehr als 6 Millionen Menschen endete eben wie bekannt in den Gaskammern. Nicht zuletzt auf die Initiative des Großmufti von Jerusalem, für dessen Ergreifung die Briten 1941 zuerst auf ihn ein Kopfgeld aussetzten, nach dem Weltkrieg aber aus pragmatischen Gründen ihn sehr schlau vor der Justiz des Nürnberger Prozesses in Ägypten und später in Libanon „versteckten“, um die Araber nicht gegen sich aufzurühren. Also keine sehr rumreiche Geschichte westlicher Politik im Nahen Osten! Und was passiert, wenn die Alliierten in Zukunft den „dreißigjährigen Ölkrieg“ in der Levante nicht gewinnen, wie einst selbst von ihnen hochgeschätzter und heroisierter Herr Feldmarschall? Was passiert dann mit hunderttausenden Entrechteten auf einer einsamen Insel? Wer schenkt diese Insel machtgierigen Lobbisten zur Verfügung? Etwa ein umstrittener Wohltäter? Vielleicht stellt er seine Luxusinsel in der Karibik zur Verfügung, oder eine noch „idyllischere“ Insel auf Dalmatinischer Küste? Oder eine viel „praktischere“ näher am Bosporus? Wirklich abscheulich…

Ich will damit lediglich sagen, dass der aristotelische Kreislauf der Weltgeschichte und die Abgründe des menschlichen Charakters nie zu unterschätzen seien. Auch nicht in „modernsten“ Gesellschaftssystemen, wie etwa parlamentarische Demokratie westlicher Prägung, denn nichts geschieht in der Politik zufällig und wenn etwas geschieht, kann man sicher sein, dass es auch auf dieser Weise sorgfältig geplant war (Franklin D. Roosevelt).

Am Kreuzweg der Konflikte – Beispiel Afghanistan

Der weltberühmte schwedische Schriftsteller und Orientexperte Jan Myrdal (Kreuzweg der Kulturen, Ein Buch über Afghanistan 1960) – wie fast jeder gesunddenkende Orientalist – ein extremer Gegner westlicher Einmischungen und  „Polizeiinterventionen“ in den Krisengebieten der Welt, entging wegen seiner radikal provozierenden Aussagen nur knapp dem Ausschluss aus dem schwedischen Schriftstellerverein P.E.N. Er sagte unter anderem, dass die Fatwa gegen Salman Rushdie nach Scharia formaljuristisch korrekt sei und dass die Regierung (überwiegend paschtunischer) Taliban, nach dem Emirat des Dost Mohammed Khan (1793-1863) und seiner Baraksai-Dynastie (formell bis 1973), die einzige wirklich unabhängige und beste Regierung Afghanistans seit Jahrzähnten gewesen sei. Sie passte aber nicht in das „Prestigemuster“ des demokratischen Terrorismus – unseres besten Exportes in die Entwicklungsländer der sog. Dritten Welt!

Es waren gewiss nicht alle Afghanen im Generellen „demokratisch“ einverstanden mit den strengen sunnitischen Gesetzen der Taliban-Scharia. Vor allem die religiösen Minderheiten fühlten sich in ihren Rechten existenziell Bedroht. Aber dass war in Afghanistan schon immer so. Unter der Taliban-Herrschaft bildete die Mehrzahl der Flüchtlinge die mongolische Ethnie der schiitischen Hazara. Diese seit dem Mongolensturm in den unwirtlichen Tälern des Hindukusch ansässige, von der sunnitischen Mehrheit stigmatisierte und diskriminierte Volksgruppe, die erst im 16. Jahrhundert unter den persischen Abbasiden islamisiert worden ist, flüchtete schon seit dem 19. Jahrhundert vor Verfolgung in regelmäßigen Abständen massenhaft ins benachbarte Britisch Indien nach Peschawar und Quetta (heute Pakistan). Die zweite Gruppe bildeten die säkular und modernistisch eingestellten Bürger, nicht zuletzt durch jahrelange sowjetisch-atheistische Indoktrination beeinflusst worden sind. Nach dem rechtswidrigen und gewaltsamen Sturz des unabhängigen islamischen Taliban-Staates durch die USA kam wie zu erwarten ein „Demokratieexperiment“ des Westens, unterstützt durch korrupte Marionettenherrscher. Es war nur noch ein unpassend gestreutes „Staubzucker“ auf überwürzte afghanische Speise des anglo-russischen „Great Game“ um die Vorherrschaft in Zentralasien. Dieses Experiment war schon vornherein auf das sichere Scheitern verurteilt worden. Die Demokratie begünstigte den Aufstieg der skrupellos machtgierigen Warlords. Die Taliban lassen nicht nach, ganz im Gegenteil, sie rücken heute verstärkt voran. Drogenhandel blüht wie noch nie. Die afghanischen Nationalisten unter der Schirmherrschaft der Alliierten sind vereint in der Nationalarme ASAF, die westlich ausgebildeten und ausgerüsteten wird. Im sonst ultrakonservativen Land werden hier auch Frauen aus meist verarmten Hazara-Familien in die Nationalarmee rekrutiert. Darüberhinaus ist die Al-Qaida ideologisch geschwächt worden und ein viel progressiver digitaler Poltergeist des asymmetrischen Krieges ist überall im Vormarsch – der Islamische Staat. Es gab bislang am „Kreuzweg der Kulturen“ im Afghanistan mit Sicherheit kein schlimmeres und gefährlicheres multikulturelles und panideologisches Konglomerat als in der Gegenwart. Die Zeiten der “Blumenkinder” sind längst vorbei. “Jetzt flüchten aus dem vom Krieg und Wirtschaftschaos in Schutt und Asche gelegten Land nicht nur die Hazara und Säkularisten, sondern einfach alle. Vor allem die desillusionierten jungen Männer und ganze Familien auf der Suche nach “Leben und Identität”. Dank althergebrachter Außenpolitik des “hochzivilisierten” Westens gegenüber „wilde und unerzogene heidnische Barbaren“. Und diese war immer methodologisch gleich, nämlich kolonialaufklärerisch nach folgendem Prinzip: Zuerst die Waffen, dann die Pfaffen! Heute wäre gewiss „politisch unkorrekt“ zu behaupten: Zuerst die Drohnen, dann die Demokratiepatronen…